Vielen Dank an Ivan Osipo für diese tollen Bilder.

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Illustration aus der Region Polynesien, bearbeitet von  Skuratovski 1970 bis 80 (copyright)

Mit Seil zur Biene

Klettern wie die alten Zeidler

Es gibt kein Werkzeug, das dem Handwerk des traditionellen Zeidlers mehr entspricht, als die Liaziva – das Baumkletterseil der Zeidler. Sie ist in schriftlichen Quellen seit mehr als 500 Jahren bekannt und wurde in ihrer Funktionalität, ihrem Design und ihren Materialien in den letzten 1.000 Jahren nicht verändert.

Geschichte der Liaziva

Das traditionelle, forstwirtschaftliche Handwerk der Bienenbaumzucht (Originalwort – „bortnictva“, zu Deutsch „Zeidlerei“) brachte die Liaziva auf den Plan. Die Zeidlerei basiert auf Wissen und Fertigkeiten, um Bienen unter natürlichen Bedingungen in einem künstlichen Baum-Bienenstock oder in einer Klotzbeute zu pflegen. Zusätzlich spielt in der Zeidlerei Tradition, Glaube und Medizin eine große Rolle.

Um in hohen Bäumen zu arbeiten, braucht es spezielle Werkzeuge. Zuerst wurde eine selbstgebaute Leiter verwendet. Sie bestand aus einem toten Baumstamm mit zahlreichen Ästen, der an den Bienen-Baum gelehnt wurde. Der Zeidler kletterte auf die Äste und sammelte den Honig aus einer natürlichen Baumhöhle. Im Laufe der Zeit begannen die Zeidler jedoch, künstliche Baumhöhlen herzustellen, wofür eine Klettertechnik nötig wurde.

Alte Klettertechnik für Bienenbäume

Die Liaziva ist ein spezielles Seil, mit dem der Zeidler auf den Bienen-Baum klettert. Der Zeidler nutzte es, um in den Baum zu klettern und sich auf der idealen Höhe für die Bienenpflege, Reinigungs- und Wartungsarbeiten zu positionieren. Sie diente auch dafür, Klotzbeuten und Werkzeuge nach oben zu befördern.

Eine Liaziva herzustellen, benötigte einiges an Übung. Das Seil bestand aus Leder, Hanf oder Lindenbast, das an einem Ende mit einem Holzsitz, am anderen Ende mit einem Holzhaken oder einer Schlinge versehen war. Die Länge der Liaziva betrug nicht weniger als 25 bis 70 Meter. Es wog je nach Länge und verwendeten Holzteilen zwischen sieben und fünfzehn Kilo. Die Liazivas weisen geringfügige regionale Designunterschiede auf, die auf verschiedene Arten der Holzbearbeitung und die unterschiedlichen Anforderungen der Zeidler zurückzuführen sind.

Klettermethode und Anwendung

Der Hauptzweck der Liaziva bestand darin, dem Zeidler die Möglichkeit zu verschaffen, auf einen Baum zu klettern. Die am weitesten entwickelten und bekanntesten Methoden sind:

Das Hochziehen

Der Kletterer warf zuerst ein Ende der Liaziva über einen Zweig. Dann setzte er sich auf den Holzsitz und zog sich Stück für Stück am anderen Seilende den Baum hinauf. Oft half von unten ein Assistent beim Hochziehen mit. Oben angekommen fixierte der Zeidler die Liaziva, um entspannt arbeiten zu können.

Klettern mit Hilfe von Trittmulden im Baum

Der Kletterer legt die Liaziva als Schlaufe um sich selbst und den Baum. Er lehnt sich so in die Liaziva, dass er sich am Baum mit den Beinen abstützen kann. So gesichert, klettert er mit Hilfe vorgefertigter Trittmulden im Baumstamm den Baum nach oben.

Klettern mit Hilfe von Schlaufen

Diese Methode funktionier ähnlich, wie die zweite. Der Unterschied besteht darin, dass der Kletterer statt Trittmulden Schlaufen verwendet. Dazu bindet er ein Seil um den Baum und nutzt die Schlaufen ähnlich einem Steigbügel für seinen Aufstieg.

Die Methoden unterschieden sich je nach Zeidler stark. Oft finden wir eine Methode, bei der die Liaziva nur zum Sichern in der Arbeitsposition verwendet wurde. Zum Klettern nutzen sie eine Leiter und kletterten den Rest über Äste nach oben. Der Zeidler lernte diese Fertigkeiten im Alter von 12-14 Jahren im Zuge der Ausbildung im Familienunternehmen vom Vater oder Großvater.

Herstellungsverfahren

Für die Liaziva wurden meist Elch-, Ochsen-, Rinder- und manchmal Bärenfell verwendet. Auch Hanfseile waren beliebt. Die Haut wurde befeuchtet und für kurze Zeit eingeweicht. Dann wurde sie rund geschnitten und zu einem Zopf geflochten. Danach wurde die Haut hauptsächlich mit Teer haltbar gemacht. Liazivas aus Lindenbast bedürfen einer langen Bearbeitung des Basts. Das Weben erfolgte nach dem gleichen Prinzip wie bei den Lederstreifen, nur die Enden des Bastseils wurden aus Festigkeitsgründen miteinander verwoben.

Nach der Vorbereitung des Seils begann die Verbindung der Holzteile. Es gab hier keine allgemeine Praxis, denn jeder Meister hatte seine eigene Art. Die hölzernen Teile wurden aus verschiedenen Baumarten hergestellt: Eiche, Birne, Pflaume, Birke, Kiefer.

Kultureller Kontext

Die Liaziva, wie auch andere Werkzeuge, wurden vererbt und von den Zeidlern über 100 Jahre oder länger verwendet. Vater oder Großvater gaben sie an den Sohn oder Enkel weiter. Starb der Zeidler, bevor er seine Werkzeuge weitergeben konnte, wurde seine Liaziva im Sarg beigelegt. So konnte er seine Arbeit in der anderen Welt fortsetzen.

Frauen war es verboten, die Liaziva zu benutzen. Heute weiß niemand mehr warum. Auch das Wissen um die Bedeutung der Zeichen und Symbole, mit denen die Liaziva verziert waren, ging über die Jahre verloren. Ein paar alte Zeidler glauben, dass die Kreuze als Verteidigungszauber eingeschnitzt wurden um den Träger vor Stürzen und Stichen zu bewahren. Eine andere Überlieferung besagt, die Kreuze gäben die Anzahl der Vorbesitzer der Liaziva oder der Bienenstöcke an.

Moderne Zeiten

Heute kann man echte Liazivas in den ethnographischen Museen von Belarus, Polen, der Ukraine, Litauen und Lettland finden. Sie sind Zeugen der harten Arbeit ehemaliger Zeidler aus unterschiedlichen Regionen. Eine große Anzahl alter Liazivas befindet sich bei den Nachfolgern der Zeidler und ihren Familien. Einige verwenden sie in der täglichen Arbeit, andere bewahren sie als Erbe des Urgroßvaters auf.

Seit Anfang 2014 gibt es in Polen, Weißrussland und der Ukraine eine Bewegung, welche die Liazivas wieder zum Leben erwecken soll. Die ständige Weiterentwicklung der Fertigkeiten und moderne Werkzeuge ermöglichen es, mehr Seile in kürzerer Zeit herzustellen. Gerade in der Ukraine und Weißrussland verschwand das Wissen um die Liazivas nie ganz, sondern wurde über die Jahre weiter angepasst und vereinfacht.

Ivan Osipo 2020 im KLetterblatt